Weniger ist mehr – Zurück zum eigenen Maß

Umgeben von einem nie zuvor dagewesenen Überfluß an Konsumgütern und Informationen sind wir unversehens in die Situation des Zauberlehrlings geraten: Nicht mehr wir beherrschen die Dinge, sondern sie uns! Auf der atemlosen Jagd nach  immer mehr verlieren wir jedoch zunehmend jedes Gefühl für Maß und Mitte, den Kontakt zu unseren eigenen Bedürfnissen und Zielen – und damit zu uns selbst.

 

Wir leiden an einem suchtartigen Verlangen nach immer mehr, obwohl wir längst schon viel zu viel haben: zu viele Dinge, die unsere Wohnungen verstopfen, zu viele Informationen, die Chaos im Kopf verursachen, zu viele Erlebnisse, die unsere Gefühlskapazitäten überfordern. Ein Überfluß, den wir kaum noch verarbeiten können – Burnout und Depressionen grassieren.

 

Wen wundert’s? Veranstalten wir doch gerade ein in der Geschichte der Menschheit einzigartiges Experiment zur Intensitätssteigerung: Wie können wir noch mehr beschleunigen, verdichten, wie noch mehr Multitasking in unser Leben bringen und unser Nervensystem überbeanspruchen? Wie viele Tragödien der Welt können wir noch im Fernsehen live miterleben, ohne verrückt oder völlig abgestumpft zu werden? Dieses Experiment tun wir uns an.

 

Um die innere Leere zu füllen und das eigene Selbstwertgefühl zu erhöhen, greifen wir wie der Süchtige zur Flasche zu den uns nahegelegten Mitteln: Konsum oder exzessives Arbeiten. Doch damit wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, bei dem wir sukzessive unsere Innenwelt preisgeben, der wir immer weniger zutrauen, glückstauglich zu sein.

Während uns Lebenskonzepte wie Individualismus und Originalität verkauft werden, hecheln wir in Wirklichkeit nur dem Mainstream hinterher und werden dabei immer angepaßter.


Mit hochprofessionellen, aus der Psychoanalyse stammenden Methoden wird täglich unsere Aufmerksamkeit zersplittert, werden wir ständig auf neue käufliche Außenreize konditioniert. Kaum einer weiß, daß der Erfinder der modernen Massenbeeinflussung Edward Bernays, ein Neffe Freuds war. Er machte in den 20er Jahren tiefenpsychologische Methoden  für amerikanische Unternehmen nutzbar, als diese verzweifelt nach neuen Absatzmöglichkeiten ihrer Massengüter für eine bereits gesättigte Gesellschaft suchten.

 

Gleichzeitig löste er damit ein Grundproblem konservativer Politiker, die sich den Kopf darüber zerbrachen, wie sie die Emotionen der Menschen in Massengesellschaften in ihrem Sinne lenken konnten. Ständiger Konsum und das unentwegte Bombardement mit Werbung war hierfür ein geradezu perfektes Mittel! Auf diese Weise werden Menschen davon abgelenkt, sich für ihre eigenen Bedürfnisse (politisch) zu engagieren. In den USA sind ist dieses Ziel nahezu verwirklicht. Aus mündigen Bürgern sind weitestgehend unpolitische Konsumenten geworden, die nicht mehr wählen.

 

Hierzulande läuft es etwas vergeistigter ab, für uns ist Wirtschaft quasi zur Religion geworden, der wir alles unterordnen – als Arbeitnehmer ebenso wie als Konsumenten. In der Arbeitswelt reagieren wir auf die Überforderungen mit Burnout und innerer Kündigung epidemischen Ausmaßes. In unserer Freizeit werden wir darauf konditioniert, einen Großteil unserer Zeit und Aufmerksamkeit eigentlich unwichtigen und banalen Dingen zuzuwenden – Zeit, die wir besser der sinnvollen Gestaltung des eigenen Lebens widmen könnten oder, je nach Gemütslage, der Verbesserung der Lebensbedingungen anderer – egal wo auf dem Globus.

 

Wenn wir die grassierende Gier beklagen, müssen wir aufhören, unsere Wünsche und Bedürfnisse manipulieren zu lassen und von selbstverliebten Ichlingen und narkotisierten Konsumsklaven wieder zu wachen, aufmerksamen (Mit)Menschen werden, die bereit sind, die Sinnfrage an ein verrückt gewordenes Wirtschaftsystem zu stellen – ebenso wie an sich selbst! Wie sagte schon Gandhi: Die Welt ist groß genug für die Bedürfnisse aller, aber zu klein für die Gier einzelner!

 

Der Weg zu einem sinnvollen und erfüllten Leben, in dem wir uns wirklich lebendig fühlen, führt über Verlangsamung und Achtsamkeit, das bewußte Erleben des Augenblicks. Wenn wir unsere Fixierung auf das Haben, das schier unstillbare Verlangen nach immer mehr – Dingen, Informationen, Erlebnissen – reduzieren, gewinnen wir etwas viel Wertvolleres: innere Balance und Souveränität. Und damit die Freiheit, die Dinge, um die es uns wirklich geht, bewußter zu verfolgen: erfüllende Beziehungen und Gemeinschaft mit anderen Menschen, die eigenen Gefühle in all ihren Facetten wieder zu erleben, Freude und Glück zu empfinden und authentischer zu werden.

 
Catharina Aanderud
Weniger ist mehr
Zurück zum eigenen Maß
CLASSICUS Verlag
240 Seiten, € 14,90

 

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