Wir Konsumbürger!

Die Attentate vom 11. September wurden häufig als Angriff auf die westliche Wertegemeinschaft bezeichnet. Doch welche Werte? Waren sie nicht eher ein Angriff auf einen „American Way of Life", der immer mehr Ländern seine ökonomischen Spielregeln aufdrängt, die Attacke eines Lebensmodells, das Menschen nur noch unter einem einzigen Aspekt betrachtet: dem des Konsumenten?

Der amerikanische Politikwissenschaftler und Clinton-Berater Benjamin Barber stellte bereits vor 9/11 fest: „Wie der Fundamentalismus mit offener Gewalt, so erstickt der postindustrielle Kapitalismus von MTV, Macintosh und McDonald's mit sanfter Gewalt Auswahlfreiheit und Mündigkeit des Bürgers im totalen Konsum."

Doch erst die Finanzkrise, die seit 2008 das weltweite Wirtschaftsystem in seinen Grundfesten erschüttert, weckt langsam immer mehr Menschen aus ihrem Dornröschenschlaf, in den sie ein immer unübersichtlicher werdendes Konsumüberangebot gelullt hatte. Bei vielen wächst nun das Unbehagen über eine Ökonomie, die derartige Macht über unser Leben und Denken gewonnen hat, daß sie alle anderen Werte überlagert.

Grenzenlose Wachstumserwartungen erfordern giergesteuerten Konsum – das suchtartige Streben nach immer mehr ist den Bürgern westlicher Industrienationen erfolgreich nahegebracht worden: Konsum bedeutet Konjunktur, ist also fast eine patriotische Pflicht. „Go Shopping" lautete bezeichnenderweise nach dem 11. September 2001 die Order für die Amerikaner!

Die Kehrseite der Medaille: Weltweit hungern 925 Millionen Menschen (während hierzulande jede Familie Essenreste für 400 Euro pro Jahr wegwirft!), 2,5 Milliarden Menschen (etwa 45 Prozent der Weltbevölkerung!) haben weniger als 2 US-Dollar täglich zur Verfügung! Spekulationen auf Grundnahrungsmittel und die Nachfrage nach Biotreibstoff treiben zudem die Lebensmittelpreise immer weiter nach oben. Wie Weltbankpräsident Robert Zoellick es ausdrückte: „Während sich manche Sorgen machen, wie sie ihren Benzintank füllen, kämpfen viele andere darum, wie sie ihren Magen füllen können." So gesehen ist die E 10-Verweigerung vieler Autofahrer ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn er eher aus unpolitischen Motiven - der Sorge um das eigene Auto - erfolgte

Die Ärmsten dieser Welt müssen inzwischen bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel ausgeben (wir dagegen nur 10 Prozent). Wer sich das nicht leisten kann, muß Erde essen! Für viele Haitianer sind Lehmkekse inzwischen die einzige Mahlzeit, weil Getreidemehl für sie zu teuer geworden ist. Die üble Mixtur verursacht zwar Durchfall, aber betäubt das Hungergefühl.

„Der Konsumkapitalismus produziert mehr Bedürfnisse als die Menschen in den entwickelten Ländern haben und ignoriert zugleich den echten Bedarf in der Dritten Welt", so Benjamin Barber. „Der Kapitalismus will schnelle Profite und verkauft Leuten Dinge, die sie nicht brauchen, weil die Menschen, die wirklich etwas brauchen, kein Geld haben."

In den reichen Industrienationen hat sich inzwischen ein ganzer Forschungszweig (Happyness Economics) darauf verlegt, unsere Einstellung zu Glück und Geld zu ergründen. Fazit: Ab einem bestimmten Level (und das liegt bei rund 30.000 Euro Jahreseinkommen) nimmt das persönliche Glücksempfinden durch steigendes Einkommen nicht mehr merklich zu! Eine Erkenntnis, die einen zu der Frage veranlassen könnte: Wozu dann eigentlich der ganze Streß?

Denn unser hoher Lebensstandard schafft ja nicht automatisch mehr Wohlstand im Sinne von geistig-seelischem Wohlbefinden, sondern immer häufiger das Gegenteil. Zeitknappheit, Streß, Überdruß, Leere, vielfältige Süchte, Depressionen, Burnout, Ängste und die Zerstörung von Beziehungen sind die geheimen Kosten des Wohlstandes. Einer kürzlich veröffentlichten Studie zufolge leiden 38 Prozent aller Europäer unter psychischen Krankheiten wie Angststörungen, Depressionen oder Süchten. Irgend etwas läuft hier grundlegend schief!

Alan Wallace, einer der kompetentesten westlichen Meditationslehrer, spricht von einem „exotischen Experiment" zur Intensitätssteigerung, das wir seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit uns selbst veranstalten und bei dem wir untersuchen: „Wie barbarisch können wir noch werden, wie sehr können wir unsere Schritte noch beschleunigen, wie können wir noch zielorientierter an multiplen Aufgaben arbeiten und unser Nervensystem überbeanspruchen? Wie viele Tragödien dieser Welt können wir als Zeuge erleben, ohne Depressionen zu bekommen, wieviel Angst erleben, ohne zusammenzubrechen? Dieses Experiment tun wir uns an!"

Bedauerlicherweise treibt uns das enorme Reizüberangebot in genau diesen Overkill. Mit hochprofessionellen, der Psychoanalyse entlehnten Methoden wird täglich unsere Aufmerksamkeit zersplittert, werden wir ständig auf neue Konsumgüter konditioniert. Der „Vater" modernen Marketings war übrigens ein Neffe Freuds, Edward Bernays. Er machte in den 20er Jahren tiefenpsychologische Methoden  für amerikanische Unternehmen nutzbar, als diese verzweifelt nach neuen Absatzmöglichkeiten ihrer Massengüter für eine bereits gesättigte Gesellschaft suchten. Die Verknüpfung von Produkten an emotionale Wünsche und Bedürfnisse ist sein „Verdienst". Ursprünglich Propagandist prägte er für sich die Bezeichnung PR-Berater. „Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern", so Bernays. Die meisten Techniken der Massenmanipulation, mit denen wir heute leben, hat er entwickelt. Er begann mit Product Placement in Filmen, bezahlte Prominente für Testimonials und empfahl Autoherstellern, Autos als Symbole männlicher Sexualität zu verkaufen. Mit einer spektakulären PR-Aktion schaffte er es sogar, Frauen quasi über Nacht zu Raucherinnen zu machen!

„Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft", schrieb er in seinem berühmten Buch „Propaganda". „Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist."

Mit seinen genialen Methoden inspirierte er Politiker und Unternehmer, die Emotionen von Menschen in Massengesellschaften in ihrem Sinne zu lenken. Ständiger Konsum und das unentwegte Bombardement mit Werbung waren hierfür geradezu perfekte Mittel!

Auf diese Weise werden Menschen davon abgelenkt, sich für ihre eigenen Bedürfnisse (politisch) zu engagieren. In den USA sind ist dieses Ziel nahezu verwirklicht. Aus mündigen Bürgern sind weitestgehend unpolitische Konsumenten geworden, die nicht mehr wählen.

Hierzulande läuft es etwas vergeistigter ab, für uns ist Wirtschaft quasi zur Religion geworden, der wir alles unterordnen – als Arbeitnehmer ebenso wie als Konsumenten. In der Arbeitswelt reagieren wir auf die Überforderungen mit Burnout und innerer Kündigung epidemischen Ausmaßes. In unserer Freizeit werden wir darauf konditioniert, einen Großteil unserer Zeit und Aufmerksamkeit eigentlich unwichtigen und banalen Dingen zuzuwenden,

Zeit, die wir besser der sinnvollen Gestaltung des eigenen Lebens widmen könnten oder, je nach Gemütslage, der Verbesserung der Lebensbedingungen anderer – egal wo auf dem Globus.

Wenn wir die grassierende Gier beklagen, müssen wir aufhören, unsere Wünsche und Bedürfnisse manipulieren zu lassen und von narkotisierten Konsumsklaven wieder zu aufmerksamen (Mit)Menschen werden, die bereit sind, die Sinnfrage an ein verrückt gewordenes Wirtschaftsystem zu stellen – ebenso wie an sich selbst! Wie sagte schon Gandhi: Die Welt ist groß genug für die Bedürfnisse aller, aber zu klein für die Gier einzelner!

 

Catharina Aanderud