Nordafrikanische Männer – am Beispiel Tunesien

Seit den Silvester-Übergriffen in Köln wird viel über nordafrikanische Männer debattiert - wobei es den nordafrikanischen Mann natürlich genauso wenig gibt wie den Deutschen. Dennoch gibt es Mentalitätsunterschiede, die durch Kultur, Religion und Sozialisation geprägt werden.

Bei meinen Reisen in Länder wie Marokko, Tunesien und Ägypten habe ich diese Unterschiede immer als Bereicherung erlebt: Während ich als Norddeutsche mich eher kopfgesteuert, kühl und zurückhaltend verhalte, reagieren arabische Männer häufig spontan, aus dem Gefühl heraus und stellen dadurch schnell einen persönlichen Kontakt her.

 

Allerdings waren mir die landesüblichen Gepflogenheiten auch immer bewusst: Einem fremden Mann länger in die Augen zu schauen, allein mit ihm in einem Raum zu sein oder freizügig gekleidet herumzulaufen wäre mir nicht im Traum eingefallen, weil dies als Einladung missverstanden wird oder mangelnde Achtung erzeugt.  Andere Länder – andere Sitten, das akzeptiere ich, wenn ich reise vorbehaltlos. Alles andere wäre kulturelle Überheblichkeit.

 

Im traditionellen Süd-Tunesien, der Region Nordafrikas, die ich am besten kenne, leben Frauen und Männer getrennt voneinander: Sie essen getrennt, feiern getrennt, verbringen den Alltag weitestgehend getrennt. Dadurch fehlt vielen die Erfahrung im  natürlichen Umgang mit dem anderen Geschlecht. „Ich weiß einfach nicht, worüber ich mit einer Frau reden soll“, gesteht Beshir, ein 30jähriger Südtunesier.

 

Diese Geschlechtertrennung soll Sexualität vor oder außerhalb der Ehe verhindern, was für gläubige Muslime auch heute noch ein Tabu ist, (auch wenn sich die wenigsten Männer daran halten). Wir betrachten das als verklemmte Sexualmoral. Doch bis zu den wilden 68ern war es hierzulande gar nicht viel anders: Eine Frau mit Selbstachtung sollte möglichst als Jungfrau in die Ehe gehen, andernfalls war sie „ein leichtes Mädchen“! Für Männer galten da andere Maßstäbe.

 

In Süd-Tunesien führt diese Doppelmoral dazu, dass viele junge Männer Beziehungen mit europäischen Touristinnen eingehen, die ihnen die Freizügigkeit bieten, die sie ihren Schwestern strikt untersagen und bei ihrer künftigen Ehefrau nie dulden würden. Dass ihre Religion ihnen das eigentlich verbietet, kann durchaus zu Schuldgefühlen führen: „Ich habe Angst, dass Gott mich dafür bestraft und ich in der Hölle schmoren werde“, sagt Jamal (32) über seine eigentlich verbotene Beziehung. Derart zerrissen von sexuellen Bedürfnissen und den Ansprüchen einer überstrengen Moral ist es psychologisch naheliegend, das eigene Begehren auf die Ausländerinnen zu projizieren, die es angeblich nur darauf anlegen, mit einem Mann ins Bett zu gehen.

 

Frauen, die abends allein herumlaufen, auch Einheimische, bezeichnet Ahmed (29) als „Prostituierte“. „Wie kommst du darauf?“, frage ich. „Andernfalls wäre sie in Begleitung“, lautet seine Antwort. Eine ehrbare Frau läuft abends nicht allein herum. Punktum. Darüber lässt sich ebenso wenig diskutieren wie über den Koran.

 

Das ist die problematische Seite vieler tunesischer Männer. Daneben gibt es jedoch eine andere Facette: eine überwältigende Fröhlichkeit, die Fähigkeit, aus dem Nichts heraus eine Stimmung zu kreieren, in der alle sich wohlfühlen. Ohne Alkohol oder andere äußeren Hilfsmittel. Die Gabe, mit sanfter, poetischer Sprache zu verzaubern und ein enormes Einfühlungsvermögen. Ich kenne kaum Menschen, deren innere Antennen und Spiegelneuronen ausgeprägter wären: Tränen rufen empathische Tränen hervor. Südtunesier erfassen die Gemütslage ihres Gegenübers spontan und intuitiv. Sie lieben und leben Gemeinschaft, nie habe ich in Tunesien einsame Menschen gesehen. Die große Familie ist füreinander da, in allen Lebenslagen. Besitz ist nicht so wichtig, Freunde leihen sich ohne großes Aufheben Geld, ohne zu fragen, wann sie es zurück bekommen. Irgendwann, Inshallah, so Gott will.

 

In vielen Bereichen leben Tunesier – und vermutlich auch andere Nordafrikaner - das genaue Gegenteil von uns. Es wundert mich daher nicht, dass der „goldene Westen“ mit seinen Verlockungen für sie eine unglaublich verwirrende Erfahrung ist, die sie erst einmal überfordert. Sie sollen im Zeitraffer eine Entwicklung nachvollziehen, für die wir Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte gebraucht haben. Manche geben unumwunden zu, dass aufgrund der Wertekonflikte in ihrem Kopf ein großes Durcheinander herrscht.

 

Wir können das schaffen, ja. Aber es wird dauern, wir brauchen dafür Geduld und einen langen Atem. Und vielleicht auch die Bereitschaft, einige unserer Werte auf den Prüfstand stellen.

 

CATHARINA AANDERUD
Gekürzte Version erschienen in emotion, März 2016