Vom Ich zum Wir

„Jeder ist sich selbst der Nächste - der Mensch strebt stets nach seinem persönlichen Vorteil“ - auf diesen Grundannahmen basierte bisher unser Wirtschaftssystem. Sie wurden von Wirtschaftswissenschaftlern gebetsmühlenartig wiederholt, bis sich die Mantren in unserem Kopf festgesetzt haben. Unser Wohlstand folgt aus dem egoistischen Handeln jedes Einzelnen, hieß es: Kaufen – Haben – Besitzen. Werbebotschaften wie „Ich und mein Magnum“ und „Unterm Strich zähl Ich“ bedienen und befördern diesen Zeitgeist noch.

Altruismus, Gemeinschaftsgefühl und solidarisches Handeln waren in diesem Szenario nicht vorgesehen. Doch globale Finanzkrise und Gier-Debatte haben zu einem Umdenken, weg vom Egotrip, geführt: Plötzlich wieder über Altruismus nachgedacht. Dabei ist das Thema ein Klassiker: Schon Sokrates stellte fest, dass der Mensch ein „Gemeinschaftstier“ ist. Ohne die Fähigkeit zu kooperieren und zu teilen hätte die Menschheit kaum überlebt. In traditionellen, zumeist ärmeren Gesellschaften rund um den Globus wird noch heute in Großfamilien und Clans gelebt, zählen menschliche Beziehungen und gegenseitige Unterstützung mehr als der persönliche Vorteil oder das Erreichen ehrgeiziger Karriereziele.

„Individualisierung“ nennen Soziologen den Prozess zunehmender Selbstbestimmung, der bei uns in den vergangenen Jahrzehnten mit wachsenden Einkommen, aber auch der Schwächung sozialer Bindungen einherging. Früher haben wirtschaftliche Faktoren die Menschen zusammen geführt – Armut schweißt zusammen, Wohlstand erhöht die individuelle Unabhängigkeit.

Manche sehen diesen Weg vom „Wir“ zum „Ich“ als Chance zur eigenen Entfaltung und Weiterentwicklung, zu immer größerer persönlichen Freiheit. Wir können unser berufliches und privates Leben nach eigenem Gusto, frei von familiären Vorgaben gestalten. Unsere Entscheidungsspielräume sind enorm gewachsen, damit aber auch der Zwang und Erfolgsdruck, jedes Detail unseres Lebens eigenverantwortlich und möglichst „richtig“ zu entscheiden. Das Soziologenpaar Ulrich Beck und  Elisabeth Beck-Gernsheim spricht daher von „riskanten Freiheiten“, denen wir ausgesetzt sind: Wir leben weitestgehend frei von moralischen Zwängen, aber auch zunehmend isoliert und einsam, weil wir die Sicherheit und Geborgenheit der Gemeinschaft verloren haben.

Das ist nicht unbedingt selbst gewählt, sondern auch Folge eines Wirtschaftssystems, das dem Einzelnen ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität abverlangt. Wer ständig Überstunden schiebt oder alle paar Jahre umzieht, kann weder ein entspanntes Familienleben noch langfristige Freundschaften aufrecht erhalten - virtuelle Kontaktpflege über das Internet ersetzen zunehmend den Live Kontakt. Wer sich und seine Ich-AG in schnelllebigen Kontakten darstellen will, braucht Ellenbogen und Selbstinszenierung. Zu viel für anderen da zu sein, wird schnell zum Karrierehindernis. Eine Frau, die ihre Kinder selbst erziehen will oder ihre alte Mutter betreut, wird kaum im Beruf reüssieren.

Besonders glücklich scheint dieser ichbezogene Lebensstil allerdings nicht zu machen, wie steigende Depressions- und Burnout-Raten zeigen. Wo Ich- und Wir-Werte aus der Balance fallen und eher das Trennende als das Verbindende betont wird, gerät das Sozialleben unter die Räder.

Und damit fehlt die Lebensfreude, die genau aus diesem Bereich kommen könnte. Vertrauen und Liebe – statt Angst und Gier – sind eben doch die stärksten Kraftquellen für ein glückliches Leben. Und die stellen sich nicht allein am PC sitzend ein – dafür brauchen wir die Hinwendung zu anderen, zu Familien und Freunden. Der Aufbau und die Pflege von tragfähigen Beziehungen und sozialen Netzwerken ist eine Lebenskunst, die zwar Zeit und Energie kostet, langfristig aber unendlich viel mehr gibt: Sicherheit und Geborgenheit, Lebensfreude und Lebenssinn. Die positive Seite von Krise und wirtschaftlicher Ungewissheit ist der neue Trend zum Miteinander – und wir sind mitten drin in diesem Prozess.

 

Catharina Aanderud