Mehr Wohlstand führt nicht zum Glück

Hamburger Abendblatt - Debatte

Wachstum darf nicht zum Selbstzweck werden. Freude am Leben entsteht erst durch Beziehungen, die Erfüllung bringen

CATHARINA AANDERUD

 

Gesundheits-Experten schlugen dieser Tage Alarm: Die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen sind  in den vergangenen zehn Jahren dramatisch gestiegen – von 33,6 Millionen auf 53,5 Millionen. Als Grund wurden steigende Anforderungen an Eigenverantwortung und Flexibilität genannt – die Leute halten den Stress einfach nicht mehr aus. Große Aufregung löst dies erstaunlicherweise nicht aus. Ängste, Depressionen und Burnout werden offenbar als hinzunehmender Kollateralschaden unseres Wohlstands betrachtet.

 

Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, wieso eines der wohlhabendsten Länder der Welt es nicht vermag, seine Wirtschaft so zu strukturieren, dass seine Bürger mit wachsendem Wohlstand auch mehr Zeitsouveränität und Zufriedenheit erleben. Das Gegenteil ist der Fall, und das nicht nur bei uns: Statistiker beobachten seit Jahren, dass Lebenszufriedenheit und Glücksempfinden in den wohlhabenden Ländern mit dem steigenden Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht mehr mithalten – die Kurven entwickeln sich auseinander. BIP allein macht eben nicht glücklich.

 

Doch um aus der Schuldenkrise heraus zu kommen brauchen wir gerade jetzt Wachstum, schließlich sind wir die Lokomotive Europas – so etwa lautet das Mantra, das uns täglich serviert, jedoch selten hinterfragt werden. Aber brauchen wir auf unserem Entwicklungsniveau tatsächlich immer noch mehr ökonomisches Wachstum? Ist es nicht längst zum Selbstzweck geworden mit wenig Glückssteigerungspotential für den einzelnen?

 

Frühere Ökonomen, deren Denken noch durch moralphilosophische Erwägungen geprägt war, hatten die Vision, zunehmender materieller Fortschritt werde irgendwann eine Sättigung der Bedürfnisse und damit das Paradies auf Erden herbeiführen – doch unsere Bedürfnisse wuchern offenbar ins Unendliche, je mehr materiellen Wohlstand wir haben, ein Sättigungspunkt scheint nicht in Sicht. Die moderne Massenproduktion und damit einhergehend eine Werbewirtschaft, die zum permanenten Konsum dieser massenhaft hergestellten Güter ausdrücklich auffordert – „du darfst!“ – hat die Pandora-Büchse des unstillbaren, unersättlichen  Begehrens nach „immer mehr“ weit geöffnet, indem sie täglich neue künstliche Bedürfnisse schafft.

 

Ständig unzufrieden zu sein und mehr zu wollen ist zwar etwas typisch Menschliches – nicht von ungefähr gilt Habgier bereits im Alten Testament als eine der sieben Todsünden. Wegen ihrer zerstörerischen Kraft für den einzelnen wie für das Gemeinwesen wird sie jedoch in den meisten Kulturen moralisch verurteilt. Nur im Kapitalismus wird das Ausleben von Gier als  Motor des Wirtschaftslebens durchgängig positiv gesehen.

 

Der „Homo Oeconomicus“, der selbstsüchtig auf seinen Vorteil bedachte Mensch, war jahrzehntelang Leitbild der Ökonomen, die als Politikberater großen Einfluß auf unsere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik nahmen. Ihr einseitiges Menschenbild hat unsere Gesellschaft nachhaltig geprägt: Vor diesem Hintergrund hat Egoismus – und in seiner Übersteigerung Gier – als vermeintliches Zeichen geistiger Gesundheit, als Voraussetzung für beruflichen und persönlichen Erfolg - eine enorme Aufwertung erfahren.

 

Die Geister, die ich rief…Während frühere Generationen noch unter Mangel litten, macht uns nun der selbst geschaffene Überfluss zu schaffen – die vielen Möglichkeiten, das mediale Überangebot, welches unsere Aufmerksamkeit zersplittert, sowie die zahlreichen Optionen, sich und sein Umfeld immer weiter zu „optimieren“ überreizen uns und lassen uns nicht zur Ruhe kommen.

 

Was fehlt, ist ein Gefühl für das richtige Maß in all diesen Dingen, denn alles Gute, was man übertreibt, wird schlecht, das hat schon Aristoteles erkannt. Was hindert uns eigentlich daran, „genug“ zu sagen und zufrieden und dankbar das bisher Erreichte zu genießen?

 

Wohlstand ist nicht die einzige Quelle von Glück. Zu viel Selbstsucht und Gier haben sich unterm Strich nicht als glückstauglich erwiesen, sondern soziale und ökologische Werte zerstört. Freude am Leben entsteht in erster Linie durch erfüllende Beziehungen, in denen wir das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen, Nähe und Geborgenheit erleben – und genau hier liegen vermutlich die größten Wachstumspotentiale der Zukunft!


Hamburger Abendblatt, 11. Mai 2012