Wie entsteht ein Hype?

Mal beginnt er als kleine Verrücktheit – und plötzlich tanzt die ganze Welt Gangnum Style. Mal startet er auch als kühl kalkulierte Marketing-Idee. Hat er erst Fahrt aufgenommen, zieht er uns alle mit. Denn er wächst aus Zeitgeist und Sehnsucht.

Wenn im vergangenen Sommer jemand zu ihm gesagt hätte: „In drei Monaten wirst du einer der berühmtesten Menschen der Welt sein“, hätte Park Jae-sang ihn für verrückt erklärt. Kein halbes Jahr später kennt fast jeder den Südkoreaner unter seinem Künstlernamen Psy; sein Video „Gangnam Style“ hat mit über einer Miliarde Klicks alle Rekorde auf YouTube gebrochen, und der 35-jährige ist von jetzt auf gleich zum Multimillionär geworden. Diesen Hype findet der Sänger selbst unglaublich.

 

Szenenwechsel: 21jährige attraktive Literaturstudentin trifft sexy Milliardär und gerät in den Sog seiner sado-masochistischen Neigungen – das ist der Stoff, aus dem die Weltbestseller-Trilogie „Shades of Grey“ von E.L. James ist. Mehr als 65 Millionen Mal gingen die Bücher weltweit über den Ladentisch, die Filmrechte sind verkauft. Dass der Soft-Porno nicht besonders gut geschrieben ist, vor peinlichen Klischees und Wiederholungen strotzt, stört Millionen Leser nicht. Hauptsache, man kann mitreden!

 

Neue Szene: Am 21. September 2012 schwänzten unzählige Kinder die Schule, Tausende Holländer reisten nach Deutschland – der Verkauf des iPhone 5 startete. Vor den Apple-Stores bildeten sich endlose Schlangen, etliche Kunden harrten sogar die ganze Nacht aus, um ein Handy zu ergattern, das sie dann wie eine Trophäe nach Hause trugen. Wie sich herumgesprochen hatte, waren von Apple nicht genügend Smartphones produziert worden. Künstliche Verknappung nennt man diese clevere Marketing-Strategie.

 

Dazu gibt es ein berühmtes Experiment: Versuchspersonen sollen die Qualität von Schallplatten bewerten. Nach dem Probehören und den Bewertungs-Interviews teilt der Versuchsleiter bedauernd mit, dass eine der Platten nicht mehr vorrätig sei. Sofort steigt die Attraktivität der vergriffenen Platte bei allen Versuchsteilnehmern. Allein, weil sie nicht mehr zu haben war.

 

Bei kühler Betrachtung fragt man sich: Wieso lassen wir uns von einer Massenbewegung derart mitreißen? Ist das archaisches Rudel-Verhalten oder Schwarm-Intelligenz? Und wie entsteht überhaupt so ein Hype?

Planbar ist er jedenfalls nicht. „Es ist viel Glück dabei, wenn ein Produkt oder Angebot genau den Nerv der Zeit trifft und dann so genannte ,Early Adapters‘ oder Trendsetter – häufig Promis – es annehmen, nutzen und bekannt machen. Sie führen den Trend an, dem andere dann folgen“, erklärt Francisca von Möller, Markenberaterin bei Prophet, einer internationalen Beraterfirma.

 

Bei „Gangnum Style“ war es die Sängerin Katy Perry, die das Video für ihre 25 Millionen Follower auf Twitter postete. „Als Multiplikatorin hatte sie natürlich die beschleunigende Wirkung einer Trägerrakete“, sagt Percy Smend, Marketing-Stratege und Geschäftsführer der Werbeagentur Scholz & Friends. Hinzu kam, dass Rapper Psy keine Rechte geltend machte, sondern sein Video sofort für Nachahmungen frei gab und es sich so ohne jedes Hindernis verbreiten konnte.

 

„Im Nachhinein ist ein Hype immer einfach erklärbar, aber es gibt keinen Kriterienkatalog, der tatsächlich voraussagen kann, was cool sein wird und dies planbar macht“, sagt Percy Smend. Man könne natürlich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, indem man für Reichweite sorge oder auf frühe Trends aufspringe. „Aber dennoch bleibt ein Geheimnis dabei“, resümiert der Stratege, „sonst wären alle Werbeleute arbeitslos! Früher hieß es: Man muss Multiplikatoren oder Meinungsführer beeinflussen, die gut vernetzt sind, über ein besonderes Expertentum oder Überzeugungskraft verfügen und so einen Trend begründen können. Aber heute, im Zeitalter der Social Media, geht es auch anders.“

 

Die britische Bestseller-Autorin E.L. James (E.L. steht für ihren richtigen Namen Erika Leonard) wusste dieses Medium geschickt zu nutzen. Die Ursprungsversion von „Shades of Grey“ schrieb sie als Fan-Fiction zu Stephanie Meyers Twilight Saga in einem Internetforum. So hängte sie sich an einen bereits bestehenden Hype und seine Fan-Gemeinde an. Schnell erntete sie Kritik wegen der detailliert beschriebenen Sado-Maso-Szenen. Doch gezielte Tabu-Brüche wirken geschäftsfördernd – und „sex sells“. Und so wird eine überarbeitete Version der Story 2011 zum meistverkauften E-Book. Als das Taschenbuch herauskommt, zitieren sämtliche Medien die brisanten Passagen und erheben das Buch zum Welterfolg.

 

 Ist der Stein erst einmal ins Rollen gekommen und eine kritische Masse erreicht, wird ein Hype zum Selbstläufer. „Aber nur wer versteht, wie Menschen ticken und welche Bedürfnisse sie haben, was sie bewegt, interessiert und letztendlich ,glücklich‘ macht, kann punkten“, sagt Markenberaterin Francisca von Möller. „Von ethnographischer Marktforschung bis zu Co-Creation, also der Möglichkeit, dass Kunden Produkte mitgestalten, wird heute alles probiert, um Menschen nahe zu sein und Produkte an ihre Bedürfnisse anzupassen.“

 

 E.L. James ist dies gelungen: Die intensive, fast suchtartige Zweisamkeit, die sie beschreibt, die Art, wie sich ihre Heldin Ana Steele ganz in Mr. Greys Kontrolle begibt, berührt offenbar die Sehnsüchte vieler Frauen nach einer Auszeit aus dem endlosen Kreislauf des Funktionieren-Müssen. Auflösung im Liebesrausch statt anstrengender Selbstverantwortung!

 

Um Menschen massenhaft zu überzeugen, müssten vor allem ihre Emotionen angesprochen werden, schrieb schon 1895 der französische Arzt und Anthropologe Gustave Le Bon in seinem Klassiker „Psychologie der Massen“. Ein wichtiges Moment, um Massen zu beeinflussen, sei dabei die Wiederholung. Man müsse einfache Botschaften und starke Bilder nur oft genug wiederholen, sie emotionalisieren und personalisieren.

 

 Im Medien-Zeitalter ist das einfacher denn je: Wenn ein Buch, Film oder Handy auf sämtlichen Kanälen beschrieben, gepriesen oder beworben wird, bahnt es sich fast unweigerlich einen Weg in unser Bewusstsein. Irgendwann glauben wir schließlich, da muss was dran sein. Das muss ich haben. Meine Freunde haben es ja auch schon! Weil wir alle Herdentiere mit einem Hang zum Konformismus sind. Was vermutlich an unserem genetisches Erbe liegt: Unsere Vorfahren haben in Horden gelebt, sich von der Gemeinschaft zu entfernen wäre tödlich gewesen.

 

Im Mainstream fühlen wir uns sicher und geborgen. Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen ihre Meinung ändern, sobald sie erfahren, dass andere über ein Problem anders denken als sie selbst. Der Grund: Wir wollen keine Außenseiter sein und brauchen das Gefühl, das „Richtige“ zu tun. Weil wir befürchten, sonst von anderen schief angesehen oder ausgegrenzt zu werden.

 

Bei Lichte besehen passiert das natürlich in den seltensten Fällen. Und so lustig ein Hype sein mag – jeden mitzumachen kann reichlich anstrengend sein (und mitunter sehr teuer!). Manchmal brauchen wir wohl einfach ein bisschen Mut zur Lücke. Die innere Souveränität, die dadurch entsteht, ist übrigens ziemlich trendy!

 

CATHARINA AANDERUD
emotion, März 2013