Achtsam durch den Tag

Unsere Kolumnistin Catharina Aanderud hat ein Achtsamkeitstraining absolviert und beschreibt, wie ein kleiner Unfall sie daran erinnert hat, stets achtsam durch den Tag zu gehen und dem inneren Dialog zu lauschen.


Kürzlich habe ich ein achtwöchiges Achtsamkeitstraining absolviert, das mich enorm nach vorne gebracht hat. Ich habe viel meditiert und regelmäßige Yogaübungen gemacht und vor allem gelernt, meinen inneren Dialog zu beobachten, über den ich in meiner vorherigen Kolumne geschrieben habe. Meditation und Yoga habe ich zwar auch schon vorher gemacht, aber nun geschieht es eben viel achtsamer. Bilde ich mir zumindest ein.

Eine Zeit lang schwebte ich also im Gefühl meiner neugewonnen Achtsamkeit - man könnte es auch Bewusstheit nennen, das klingt weniger edukativ - und fühlte mich sehr in Balance mit mir selbst, sozusagen auf Augenhöhe mit meiner Aufmerksamkeit bei allem, was ich tat. Es war eigentlich ein kompletter Reset und sehr erholsam. Viel Überflüssiges fiel von mir ab, ich entrümpelte und erledigte tausende von To Dos, die ich jahrelang mit mir rumgeschleppt hatte, es war wie ein Rausch!
 

Sich helfen lassen

Dann passierte etwas, was mir sehr zu denken gab. Zurück aus Süddeutschland, wo ich meinen Sohn besucht hatte, näherte ich mich mit meinem nicht allzu schweren Handkoffer den Treppen am Hamburger Hauptbahnhof. Es war 21 Uhr, ich war glücklich und zufrieden, nach der sechsstündigen Bahnfahrt aber auch ziemlich müde.
"Es wäre doch total blöd, wenn Du jetzt die Stufen herunterpoltern würdest", dachte ich oder, besser gesagt, dachte irgendetwas in mir. Da ich ja gelernt habe, meinen Intuitionen stärker zu vertrauen, ging ich nun recht bedächtig die Stufen herunter. Das Geländer mochte ich nicht anfassen (Viren!), außerdem dachte ich sehr energisch: "So alt bin ich noch nicht!".

Leider verfehlte ich in dieser Hybris die vorletzte Stufe vor dem ersten Treppenabsatz und segelte grandios ins Leere. Ich fiel gut und bewusst auf die Fre…, aber so gut nun auch wieder nicht, denn ich lag erst einmal eine Weile sehr benommen da. Gebrochen ist nix, wusste ich sofort, aber so schnell kam ich trotzdem nicht wieder hoch, denn das Ganze war ja doch recht überraschend über mich gekommen und ich befand mich am Beginn eines leichten Schockstadiums, wie ich später feststellen durfte. Dann tauchte ein Gedanke auf: "Ob einem hier am Hauptbahnhof wohl überhaupt jemand hilft?" Kaum gedacht hörte ich schon eine weibliche Stimme hinter mir: "Sind Sie okay?" – "Ja, geht schon", murmelte ich und rappelte mich schneller als gut für mich wieder hoch. "Lassen Sie mich wenigstens Ihren schweren Koffer runtertragen", sagte die Stimme hinter mir. "So schwer ist der nicht", knurrte ich und schleppte eigensinnig meinen Koffer zur S-Bahn.
 

Die Prägungen der Kindheit

Keine Ahnung, warum ich mir nicht helfen ließ. "Kann ich allein" ist wohl rückblickend betrachtet ein ziemlich prägender Satz aus dem Fundus meiner Kindheit. Es war jedenfalls keine gute Idee, denn unten angekommen fühlte ich mich einer Ohnmacht nahe. Setzte mich auf einen freien Stuhl, schleppte mich in die S-Bahn und fiel tatsächlich fast in Ohnmacht, hatte Schweißausbrüche und mir war schwindelig. Macht nix, sagte ich mir achtsam, beobachte es ohne Angst und sieh zu, dass Du eine Station vor deiner Enddestination wieder fit bist.
Und genau so geschah es auch. Ich war recht zufrieden mit mir. Nach ein paar Tagen stellte ich allerdings fest, dass ich mir bei meinem grandiosen Sturz komplett den Schultergürtel blockiert hatte und kaum noch meinen Kopf drehen konnte. Der saß zwar noch oben drauf, aber es knirschte im Gebälk und nachts musste ich ihn, wenn ich mich umdrehte, per Hand seitlich betten, da mir der Nacken so weh tat.
 

Eine Expedition durch den eigenen Körper

Also fuhr ich zwecks Nadeln meiner Triggerpunkte zu einem Wunderdoktor nach Warnsdorf an die Ostsee. Der Mann ist Gold wert. Während ich unter seinen langen Nadeln ächzte, stöhnte und schließlich laut aufschrie, ermunterte er mich, doch einfach achtsam (!) den Schmerz zu beobachten. Eine grandiose Idee.

Es war wie eine gemeinsame Expedition durch meinen Körper (nicht falsch zu verstehen) und ich erlebte, wie sich der Schmerz je nach getroffenem Punkt von den Schultern in die Armvorder- oder -rückseite fortsetzte - und schließlich schlagartig aufhörte, denn der gute Mann spritzte sehr achtsam spannungslösendes Prokain in die besonders zuckenden und schmerzenden Punkte, es waren alles Volltreffer.
 

Atmen und loslassen

"Atmen Sie", forderte er mich auf, wenn ich dabei laut aufschrie. "Ja, genau, das hatte ich schon ganz vergessen", sagte ich. "Dabei habe ich doch gerade ein Achtsamkeitstraining mit viel Atembeobachtung hinter mir. Und seit neuestem eine Art Straßenschild, auf dem 'Loslassen, immer wieder loslassen' steht!" "Na, dann betrachten Sie das hier doch mal als Ihre Loslassübung!", sagte er ironisch und beendete endlich die Sitzung.

Seither ist mir eines klar: Der kleinste Moment der Unachtsamkeit kann enorme Auswirkungen habe. Nicht dass ich jetzt ängstlich jede Treppe herunter gehen würde, nein, aber - ach ja, das Wichtigste hätte ich fast vergessen zu erzählen: Mein linkes Knie tat mir nach dem Sturz tagelang weh und zwang mich fast zwei Wochen lang, jede Treppe sehr, sehr langsam herunter zu gehen. Schritt für Schritt. Für eine schnelle Frau wie mich unendlich langweilig, aber eine super Übung!
So ist aus dem ganzen Malheur doch noch etwas sehr Positives geworden, nämlich eine recht pfiffige Auffrischung für meine Achtsamkeitspraxis (was für ein abgelutschtes Wort)! Nennen wir es lieber Bewusstseinsübung. Wie auch immer, im Nachhinein betrachtet bin ich für diesen Anstoß jedenfalls außerordentlich dankbar! Mehr dazu demnächst.

 

CATHARINA AANDERUD
emotion, November 2014