Weniger ist mehr – Zurück zum einfachen Leben

Zuviel zu kaufen und zu wissen. Umgeben vom Überfluss sind wir dabei, allmählich die Kontrolle zu verlieren. Wollen wir uns der Tyrannei des totalen Konsum entziehen, müssen wir zurück zum einfachen Leben.

Blicken wir auf unsere Gesellschaft, so ist vorherrschender Eindruck der eines »Zuviel« auf allen Ebenen, in allen Bereichen: zu viel zu kaufen, zu viel zu wissen, zu viel zu erleben. zu voll der Kopf, zu leer das Herz. Umgeben von einem nie zuvor dagewesenen Überfluss an Konsumgütern und Informationen sind wir unversehens in die Situation des Zauberlehrlings geraten, dem die Kontrolle über die von ihm geschaffenen Fakten entgleitet: nicht mehr wir beherrschen Dinge, sondern sie uns. Das Überangebot droht uns zu erschlagen, wir verlieren uns darin. Der deutsche Verbraucher findet im europäischen Vergleich das größte Warenangebot vor – aber ist er deswegen glücklicher?

Eher hat man den Eindruck von allgemeinem Überdruss, der sich breit macht.

Es ist die Fülle, die uns kirre und entscheidungsirre macht, auf einer ganz konkreten Ebene: die Masse der aus den Maschinen quellenden Waren, die in den Läden nach Absatz drängen, die verkauft (oder bezeichnenderweise: »losgeschlagen«) werden müssen, während hinter ihnen schon der nächste Produktionsausstoß anrollt.

Was hier als (Wahl-)Freiheit »verkauft« wird, könnte sich bei genauerer Analyse auch als Etikettenschwindel erweisen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Professor Benjamin R. Barber drückt das ziemlich drastisch aus: »Wie der Fundamentalismus mit offener Gewalt, so erstickt der postindustrielle Kapitalismus mit sanfter Gewalt Auswahlfreiheit und Mündigkeit des Bürgers im totalen Konsum. Zwar habe der Konsum-Kapitalismus die Tyrannei des Kommunismus aufgebrochen, »aber er entwickelt eine neue Tyrannei. Statt politischem Totalitarismus haben wir die Form des ökonomischen Totalitarismus«. In der traditionellen Volkswirtschaft wurden Güter hergestellt, um die Nachfrage zu befriedigen. Im neuen weltumspannenden Kapitalismus dagegen werden Bedürfnisse Bedürfnisse produziert, um das Angebot der Hersteller abzusetzen. Konsum wird zur gesellschaftlichen Pflicht, denn mit freiwilliger Selbstbeschränkung, so lautet das gängige Argument, gefährden wir nur weitere Arbeitsplätze...

Das Ergebnis kann jeder bei sich zu Hause inspizieren: Kleiderschränke, Schubladen, Keller und Speicher – alles voll mit Sachen, die bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht benötigt, da nie benutzt werden und vielleicht verschenkt oder recycelt werden sollten.

Zu den Luxusgütern der Zukunft werden Zeit und Raum gehören, prognostizieren bereits Trendforscher. Zeit, um eigenen Interessen nachzugehen, und Raum, um Bewegungsfreiheit zu genießen. Beides muss man sich schaffen: »Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich aus dem Warenberg freizuschaufeln«, meint der Autor Hans Magnus Enzensberger. »Meist ist die ohnehin viel zu kleine Wohnung mit Möbeln, Geräten, Nippes und Klamotten verbarrikadiert.« Ganz zu schweigen von der Zeit, die es kostet, all unser Hab und Gut in Ordnung zu halten, zu pflegen und zu reparieren, »Was fehlt«, so Enzensberger «ist jener Überfluss an Platz, der die freie Bewegung erst möglich macht. Heute wirkt ein Zimmer luxuriös, wenn es leer ist.«

Lessness, weniger ist mehr – das ist der sich andeutende Trend für das neue Jahrtausend. Weg mit dem überflüssigen Plunder, weg mit allem, was zu viel ist. Wofür brauchen wir zehn oder zwanzig Paar Schuhe, wenn wir doch immer nur dieselben zwei Paar anziehen? Wie viel nie getragene Kleidung hängt in unseren Schränken? Nach allgemeiner Regel nutzen wir ohnehin nur etwa 20 Prozent der in unserem Kleiderschrank stationierten Garderobe. Warum stauben im Keller ausrangierte Möbelgarnituren, nicht genutzte Fahrräder und Fitnessgeräte sowie ungenutzte Haushaltsgeräte wie Fonduetopf, Waffeleisen und Raclette-Topf vor sich hin. Und was sollen wir mit den ganzen alten Zeitschriften?

»Die Leute realisieren oft nicht, dass zuviel Gerümpel eine schlimme Stressquelle ist«, meint der amerikanische Aufräumexperte und Autor Don Aslett. Nach seinen Schätzungen stehen in einer typischen amerikanischen Familie 25 Prozent zu viel Möbel und 75 Prozent überflüssige Gegenstände. Hierzulande wird es nicht wesentlich anders sein.

Und dieser unnütze Krempel, für den die Amerikaner das wunderbar kurze, ebenso verächtlich wie derb klingende Wort »Junk« (sprich: »dschank«), ist enorm belastet. Er verursacht Kosten in Form von Zeit Energie und Anstrengung, die aufgewandt werden müssen, um ihn zu erhalten und auf ihn aufzupassen. »Er erstickt uns und beraubt uns unserer Freiheit«, so Aslett. »Wir haben unsere Kreativität zugeschüttet durch Ansammlungen. Wir haben Flexibilität eingefroren durch Überfluss. Wir haben so viele Dinge erjagt und gekauft, die wir erhalten, lagern säubern oder reparieren müssen, dass wir keine Freiheit mehr haben.«

Das ist der tiefere Sinn von Lessness: zu erkennen dass steter Konsum das eigene Wohlbefinden nicht unbedingt steigert, das »mehr haben« nicht voreilig mit »glücklicher sein« gleichzusetzen ist. Mit anderen Worten: Gesteigerte Quantität führt nicht zwangsläufig zu erhöhter Qualität – zum Beispiel Lebensqualität. Darin besteht der grundlegende Irrtum, von dem das Leben in den Industriegesellschaften heute bestimmt wird. Die Fülle der angeschafften Gegenstände nervt irgendwann und erweist sich als nicht glückstauglich. Im Fernsehen können wir drei Dutzend Kanäle sehen – aber hat es uns eine deutlich erhöhte Qualität der Programme gebracht oder eher ein »more of the same«?

Unser hochtechnologisierter Lebensstandard schafft nicht automatisch mehr Wohlstand im Sinne von geistig-seelischem Wohlbefinden, sondern immer häufiger das Gegenteil. Zeitknappheit, Stress, Überdruss, Leere, vielfältige Süchte, Depressionen, Ängste und die Zerstörung von Beziehungen sind die geheimen Kosten des Wohlstandes.

Fixiert auf die herrschende Leitlinie: Immer höher, immer schneller, immer größer, immer mehr ist uns das eigene Maß dafür verloren gegangen, wann etwas zu viel ist – und das ist genauso negativ wie das zuwenig! In einem Bild: Der überfüllte Magen fühlt sich ebenso unangenehm an wie der zu leere. das der Mangel etwas Negatives ist, leuchtet jedem unmittelbar ein. Dass aber auch der Überfluss schädlich ist, wird bisher noch nicht in gleicher Weise wahrgenommen. Und doch entfernt uns beides gleichermaßen von der optimalen Mitte und damit von unseren Gefühlen, Bedürfnissen und Zielen.

Weil der Versuch, durch materielle Dinge immaterielle Güter wie Zufriedenheit oder gar Glück zu erkaufen, regelmäßig scheitert und stets aufs Neue nur innere Leere hinterlässt (was vom stets neuen Probieren keineswegs abhält), setzt sich ein Kreislauf in Gang, bei dem der Konsument letztlich immer mehr von außen gesteuert wird: Je mehr er sein Glück in die Welt der Dinge verlagert, desto mehr gibt er im Gegenzug seine Innenwelt preis, der er immer weniger zutraut, glückstauglich zu sein.

Wie es der Theologe Hans Küng in seiner Erklärung zum »Weltethos« formulierte: »Statt einer unstillbaren Gier nach Geld, Prestige und Konsum ist wieder neu der Sinn für Maß und Bescheidenheit zu finden. Denn der Mensch der Gier verliert seine Seele, seine Freiheit, seine Gelassenheit, seinen inneren Frieden und somit das, was ihn zum Menschen macht.«

Eine maßvolle Lebensweise bedeutet ein Bewusstwerden für das, was wir tun. Und sie erfordert Langsamkeit – auf Neudeutsch: Entschleunigung – für das Erspüren der eigenen Mitte. Denn das richtige Maß, unsere Maßstäbe kommen aus unserer geistigen Mitte. Hier ordnen wir unsere unterschiedlichen Bestrebungen und Wünsche, Einsichten und Erlebnisse, und versuchen, sie in einstimmiges Wertesystem zu bringen. Das erfordert natürlich Zeit, Ruhe und innere Sammlung – und dazu muss man sich bewusst entschließen.

Die allgemeine Tendenz geht eher in die entgegengesetzte Richtung: Durch das enorme Reizüberangebot wird uns eigentlich ständig die Zersplitterung unserer Aufmerksamkeit nahe gelegt. Wo wir unsere Mitte aber nicht bewusst kultivieren, wird sie von anderen kolonisiert.