Warum ich nicht mehr nach Indien fahren mag

Unsere Kolumnistin Catharina Aanderud mochte Indien eigentlich immer - aufgrund seiner Farbigkeit, Spiritualität und des liebenswerten Chaos. Aber nach den letzten Ereignissen hat sie sich entschieden, nicht mehr nach Indien zu fahren.


Ich habe beschlossen, vorerst nicht mehr nach Indien zu fahren – obwohl ich dieses Land in seiner Farbigkeit, seiner Spiritualität und seinem Chaos nach wie vor faszinierend finde. Doch als ich jetzt von einer erneuten Massenvergewaltigung einer jungen Inderin hörte, die, man mag es kaum glauben, auf Befehl eines Dorfvorstehers erfolgte, war mein Entschluss endgültig gefasst. Ich möchte nicht mehr in ein Land reisen, in dem Frauen offenbar Freiwild sind, die man quälen und erniedrigen kann, wie es beliebt. Die man als "Strafe" für eine Affäre mit einem Mann aus einer anderen Religionsgemeinschaft einer Horde geiler Männer ausliefert, die wie Tiere über sie herfallen und sie krankenhausreif bumsen dürfen. Sorry für die harten Worte, aber man muss die Dinge ja mal beim Namen nennen, um sie klar zu machen.
 

Was mich irritiert...

Ich habe keine Angst vor Vergewaltigung, nein, aus dem Alter bin ich inzwischen raus. Es geht mir ums Prinzip: Ich fahre grundsätzlich nicht in Länder, deren Machtstrukturen mir völlig contre coeur gehen. Das ist mein persönliches Zeichen, das ich setze. Der oben beschriebene Vorfall war für mich der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Bereits als im vergangenen Jahr von der brutalen Massenvergewaltigung einer Studentin in einem Bus berichtet wurde, an deren Folge sie starb, war ich entsetzt und betrachtete zum ersten Mal die Todesstrafe als angemessen für einen derartig unvorstellbaren Sadismus. Gleichzeitig war ich völlig irritiert: Indien – dieses verrückte hochspirituelle Land, in das jedes Jahr tausende von Sinnsuchern und vor allem Sinnsucherinnen aus aller Welt reisen, um inneren Frieden oder gar Erleuchtung zu finden, hat eine sehr düstere Kehrseite: die ausgeprägte Machokultur der Männer, die wissen, dass sie sich alles erlauben können.
 

Zu früh in die Moderne

Früher erwartete man von den Witwen, dass sie sich zusammen mit ihren verstorbenen Ehemännern verbrennen lassen – das wissen wir seit Jules Vernes "In 80 Tagen um die Welt". Heute erwartet man von jungen Frauen, deren Familien die weiteren Raten für das Brautgeld nicht zahlen können, dass sie sich selbst umbringen. Bei mysteriösen Haushaltsunfällen kommen jedes Jahr hunderte von Frauen um. Und das in einem Land, das wie kaum ein anderes für Spiritualität – also das genaue Gegenteil von blankem Materialismus steht. Vermutlich einer der Grundwidersprüche dieses Landes, das zu schnell in die Moderne gepeitscht wurde.
 

Das Leben findet auf der Straße statt

Ich liebe Indien und die Fähigkeit der Inder, trotz oder gerade wegen großer Armut auf engstem Raum entspannt zusammen zu leben, sich in großen Massen zu bewegen und doch bei sich zu bleiben. Ich habe die Inder nie als aufdringlich erlebt. Auch die Händler sind anders als in den arabischen Ländern viel zu cool, um Kunden hinterherzulaufen, die kommen ohnehin oder eben nicht. Vielleicht ist das gelebte Spiritualität, dachte ich. Jede Menge mehr oder weniger verrückte Sinnsucher hatte ich bereits in Rishikesh, am Fuße des Himalayas, gesehen, drahtige Saddhus (Heilige), die nur mit einem safrangelben Lendenschurz bekleidet in den heiligen Fluss Ganges stiegen, um dort ihre rituellen Waschungen vorzunehmen.

Eine für Westeuropäer verrückte Welt, in der das Leben größtenteils öffentlich, vor aller Augen statt findet: Auf der Straße wird gekocht, geschlafen, sich gewaschen, gelebt und gestorben. Kühe trotten unbehelligt in offene Ladenbuden trotten, während draußen ein vielgestaltiger Verkehr aus hupenden Tuc-Tucs, Fahrrädern, Ochsenkarren und Autos vorbeibrandet. Oben darüber ragen große, farbenfroh gestaltete Reklametafeln à la Bollywood, auf denen langhaarige Heilige, die alle aussehen wie Jesus, ihre Dienste anbieten oder zu Meditations-Retreats einladen. Eine völlig absurde Mischung! Und daher so reizvoll für uns übersättigte Konsumbürger.
 

Ausgerechnet im Lande Ghandis!

"Wir kommen aus einer Kultur, in der es überhaupt keinen Wettbewerb gab und sind jetzt in eine Wettbewerbskultur gedrängt worden, was bedeutet, dass jeder unsicher wird", sagt Swami Dayananda, der spirituelle Leiter "meines" Ashrams in Rishikesh. "Wir müssen wachsen, um in dieser Wettbewerbskultur gut mit uns umzugehen. Das können wir nur, wenn wir genügend Selbstwert haben." Swami Dayananda gilt in Indien als einer der angesehensten Ausleger der Veden – jener religiös-philosophischer Schriften, die zu den ältesten der Menschheit gehören.
Ist Indien dabei, an seinen Widersprüchen zu zerbrechen? Verbirgt sich hinter dem, was einem dort exotisch, reizvoll und widersprüchlich entgegenkommt, ein Land, das unter einer rasanten Modernisierung leidet und dessen Kultur - im Sinne von: Kultivieren des Zusammenlebens von Menschen - daran zugrunde geht? Ausgerechnet Indien, das Land Ghandis!

Emanzipation: Fehlanzeige

In zahlreichen Indien-Romanen, die ich inzwischen gelesen habe, geht es um Macht, Gewalt und Korruption der Mächtigen, um die die Verwicklung von Medien, Politik und Polizei in finanzträchtige Projekte, bei deren Durchsetzung auch vor kaltblütigem Mord nicht zurückgeschreckt wird. Eine erschreckende Entwicklung weg von der Spiritualität und hin zum äußersten Materialismus.
Was also habe ich zu suchen in einem Land, in dem die Menschenwürde, vor allem die der Frauen derart mit Füßen getreten wird? Gar nichts! Es macht keinen Sinn! Schon vergessen: Wir diskutierten im vergangenen Jahr auf das Heftigste und wochenlang die vergleichsweise harmlose Bemerkung eines Politikers über das Dekoltee einer Journalistin! Dies ist der Level unserer emanzipatorischen Bemühungen – wir klagen auf höchstem Niveau! Wie wär's mal mit einem Blick über den eigenen Tellerrand, dorthin, wo das Leben für eine Frau wirklich hart ist? Wie zum Beispiel für die indischen Witwen, die nach dem Tod ihres Mannes von der Familie verstoßen werden und ihren Lebensabend als Bettlerinnen auf der Straße verbringen müssen. Die indische Stadt Vrinaban ist voll von ihnen!

 

Eat, Pray, Love ist super, auch immer noch sehr in - aber muss frau dafür wirklich nach Indien fahren? Eigentlich kann man das auch ganz gut hierzulande praktizieren. Vor der eigenen Haustüre sozusagen. Ist vielleicht nicht ganz so spektakulär und exotisch, dafür aber politisch und vor allem menschlich eindeutig korrekter, würde ich sagen!

 

CATHARINA AANDERUD
emotion, November 2014