Cuba – ein Gegenentwurf zum Kapitalismus

09.11.2015

Cuba ist ein Land voller Lebensfreude, Leichtigkeit und Leidenschaft. Catharina Aanderud beschreibt die Eindrücke ihrer Reise fernab von westlichem Zeitdruck und Arbeitsstress.
Wer immer schon ahnte, dass Glück und Lebensfreude nicht unbedingt von viel Geld und einem hohen Lebensstandard abhängen, kann dies auf Cuba besichtigen - und mit allen Sinnen erleben! Denn auf der Karibikinsel herrscht zwar noch Sozialismus mit all seinen Mangelerscheinungen an äußerem Wohlstand, dennoch strahlen die Cubaner eine unbändige Liebe zum Leben aus, die fast atmosphärisch greifbar ist. Sie leben selbstbewusst all das, was in unserer arbeitsbesessenen Gesellschaft ein Schattendasein führt und was wir erfolgreich unterdrücken, um leistungsfähig zu sein!

 

Mit Leidenschaft leben

In den Straßen von Havanna, deren bunte Häuser sich in jedem Stadium von Zerfall und Erneuerung präsentieren, ertönt aus allen Restaurants und Bars lautstarke Salsa-Musik, überwiegend live. Ansteckend fröhlich. Hier ist tatsächlich den ganzen Tag Party! Ich sitze auf einer üppig überrankten Terrasse direkt vor der Combo, die mit Körper, Gefühl und Seele einfach alles gibt. Man sieht es den Frauen und Männern an, dass sie lieben, was sie tun, sie haben den Rhythmus im Blut, lachen und sind voll dabei. Auf die vielen erlebnishungrigen Touristen wie auch auf mich wirkt das wie ein Lebenselixier.

Ich wippe im Takt zur Musik, lasse mich von ihr mitreißen und fange mit wildfremden Menschen Gespräche an, während ich mir ganz gegen die antrainierte Vernunft schon am späten Vormittag einen Mojito genehmige. Das ist hier ganz normal, stelle ich mit Blick auf die anderen Tische fest. Entspannt und gelassen schaue ich auf die Straße vor der Bar, wo bunte Oldtimer aus den 50er Jahren für ein fast unwirklich nostalgisches Flair sorgen. Cuba - das bedeutet auch eine Zeitreise zurück in eine gemächlichere, weniger perfekte Welt, in der „Optimieren“ glücklicherweise noch ein Fremdwort ist.

 

Jeder ist Künstler

Natürlich muss ich ständig an Buena Vista Social Club denken. In Havanna ist das keineswegs Vergangenheit, sondern ein von allen Bewohnern gelebter und gefeierter Mythos! Die ganze Altstadt wirkt wie eine etwas morbide Kulisse für diese täglich neu inszenierte Live-Aufführung. Hier ist jeder ein Künstler, malt Bilder, fertigt Schmuck, tanzt oder macht Musik. Durch Mangel wird viel kreatives Potential freigesetzt. Was man nicht kaufen kann, stellt man eben selbst her. Egal, wie viele Pesos das einbringt, es ist sowieso zu wenig zum Leben. Da alle im selben Boot sitzen, stört es keinen übermäßig. Konkurrenz und der Vergleich mit anderen entfallen. Schon das allein entspannt.

Den Moment genießen

"Wir haben Spaß mit unseren Freunden und leben den Moment", sagt ein attraktiver Salsa-Lehrer und das klingt bei ihm überhaupt nicht esoterisch, sondern beschreibt einfach nur die Realität. "Was sollen wir sonst machen?" Bei umgerechnet 15 Euro im Monat, die ein Cubaner verdient, eine berechtigte Frage.

"Wir essen zwar oft nur Reis und Bohnen, für Fleisch fehlt uns meistens das Geld, aber wir haben Musik, den Tanz. Das ist unser Leben und wir lieben es", erklärt mir ein Saxophonist mit strahlendem Lächeln. "Ich verstehe nur eins nicht: Wieso sind die Europäer bloß immer so angespannt?" Auf diese Frage weiß ich erst einmal keine Antwort. Und dann viel zu viele.

 

Cuba – ein Gegenentwurf zum Kapitalismus

Wir können uns zwar alle möglichen Dinge leisten, von denen die Cubaner nur träumen können, aber hat uns das in Punkto Lebensfreude wirklich voran gebracht? Da wir immer damit beschäftigt sind, irgendwelchen weit gesteckten Zielen in der Zukunft hinterher zu laufen, haben wir völlig vergessen, entspannt den Augenblicks zu genießen. Den einzigen Moment, in dem wir das Leben spüren können. Vergessen, verlernt.

Selbst im Urlaub! Wir arbeiten wie besessen, um uns all die Dinge kaufen zu können, von deren Existenz wir erst durch die Werbung erfahren und die wir vorher gar nicht vermisst haben. Irgendwann stellen wir fest, dass wir erschöpft sind und suchen das Weite. Wir fliegen in Länder, in denen die Menschen uns offen, warmherzig und voller Lebensfreude begegnen. Etwas nachdenklich geworden kommen wir zurück, um unverzagt erneut in das Hamsterrad von Arbeit und Konsum einzusteigen…


Salsa ist Leidenschaft und Ekstase

Später, denken wir, später werde ich ganz anders leben. Weniger haben, mehr sein. Entspannt all die Bücher lesen, die ich immer schon mal lesen wollte. Ohne Zwang nur das tun, wozu ich Lust habe. Unter Palmen tanzen. Aber dann sind wir vielleicht schon zu alt, um ausgelassen zu tanzen!

Unter Palmen tanzen die Cubaner - claro! - schon heute. Am Strand - sozusagen als Generalprobe für den Abend, wo dann richtig die Post abgeht. Nirgendwo auf der Welt habe ich so hemmungslose Tänzerinnen und Tänzer gesehen wie auf Cuba. Sie verschmelzen mit rasantem Hüftschwung so ekstatisch mit ihren Tanzpartnern, dass einem schier der Atem stockt. In den Salsa-Clubs, die es auch unter freiem Himmel gibt, tanzt keiner allein.
Hier werden Frauen, so wie bei uns früher auch, noch ganz altmodisch aufgefordert. Von Männern, die das Tanzen genauso wie die Frauen lieben, weil es der beste Ausdruck ihres Lebensgefühls ist: Alles geben, den Moment leben und das mit Leidenschaft. Wer weiß schon, was morgen ist!


Was ist besser: Kapitalismus oder Sozialismus?

Keiner weiß das. Morgen, spätestens mit dem Abdanken der Castro-Brüder wird sich Cuba vermutlich vom Sozialismus verabschieden. Dann wird das Handels-Embargo fallen, die Amerikaner werden auf der Insel investieren und die Cubaner werden sich den Freuden des Konsums hingeben. Sie werden weniger zusammen tanzen und dafür mehr im Internet surfen, das bisher kaum zugänglich ist. Sie werden einander weniger in die Augen und dafür mehr auf ihre Handys schauen, die heute noch Mangelware sind und außerdem weder Facebook noch Whats App kennen. Natürlich gönne ich ihnen all diese technischen Errungenschaften, die für uns selbstverständlich geworden sind. Aber es wird dann mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr dasselbe Land sein.

"Was ist denn nun besser, Kapitalismus oder Sozialismus?", fragt mich mein Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen interessiert. "Ich weiß nicht", sage ich zögernd. "Wir haben oft zu wenig Zeit, um die vielen Dinge, die wir uns kaufen können, richtig zu genießen. Und manchmal kommt uns vor lauter Arbeitsstress die Fähigkeit zum entspannten Zusammensein etwas abhanden." Würde er etwa gern tauschen? "Nicht unbedingt", sagt er und ergänzt lachend und nicht ohne Stolz: "Cuba ist schon ein ziemlich verrücktes Land." Was immer das heißt – vielleicht, dass es hier trotz aller Einschränkungen emotionale Freiheiten und Erfahrungen gibt, von denen wir nur träumen können. Darum beneide ich ihn. "Das Beste wäre wohl eine Mischung aus beiden Systemen", meint er schließlich.
Da mag er recht haben. Und auch deshalb schätze ich mich glücklich, in Cuba einen der wenigen noch existierenden Gegenentwürfe zu unserem überreizten westlichen Lebensstil kennen gelernt zu haben. Wer ähnliche Interessen hat und die unbändige, ja, ungezähmte Lebensfreude der Cubaner im real existierenden Sozialismus noch erleben will, sollte damit nicht allzu lange warten.