Gier - Das grosse Fressen

Lange galt Gier als Motor unseres Wirtschaftslebens. Bis die Krise kam und die Frage aufwarf: Was eigentlich nützt sie uns, wenn ständig steigender Konsum weder das Glück noch den Fortschritt befeuert?

»Je weiter du nach oben kommst, desto größer wird die Gier, weil die Zahl deiner Handlungsoptionen wächst. Je mehr Optionen du hast, desto mehr Ideen entwickelst du, was du noch haben und machen könntest«, sagt ein erfolgreicher Unternehmer, der jedesJahr ein paar Wochen in Indien verbringt, wo er in heilsamer Distanz die Verrücktheiten des Hamsterrads unserer Wirtschaft, des ewigen »immer mehr«, zu durchschauen versucht. Um dann allerdings erneut dort einzusteigen, wo er herkam – vielleicht mit ein bisschen mehr Bewusstheit.

 

WOHL KAUM EIN WORT hat in den letzten Jahren eine derartige Karriere gemacht wie die »Gier«, die es seit Beginn der Finanzkrise aus der theologischen und moralphilosophischen Ecke mitten in den gesellschaftlichen Diskurs geschafft hat. Gier gilt als out, in ist es dagegen, die Gier – vor allem bei den Managern und den Akteuren des Finanzparketts – zu erkennen und als zerstörerische Kraft zu geißeln.
Das war einmal anders: »Gier ist gut, Gier ist richtig, Gier funktioniert«, sagt Michael Douglas 1987 als Börsenspekulant Gordon Gekko in dem Film »Wall Street«. Schließlich, so argumentiert er, habe die Gier in all ihren Formen die Entwicklung der Menschheit entscheidend geprägt und letztlich vorangebracht. Nach dem Motto: Wären wir selbstgenügsam, säßen wir womöglich immer noch auf den Bäumen. Es stellt sich also die Frage: Ist die Gier ein Markenzeichen des Kapitalismus, weil in diesem System jeder dazu ermuntert wird, seinen Vorteil zu suchen? Oder liegt die Gier systemunabhängig in der menschlichen Natur begründet?
Zunächst eine Begriffsbestimmung: Im Allgemeinen versteht man unter Gier (von lat. avaritia) das starke bis ungezügelte Verlangen, etwas zu haben oder zu bekommen – eine Haltung, die sich nicht nur auf Geld, sondern auf alle nur denkbaren Dinge des Lebens beziehen kann. Der eng damit verwandte Begriff Habgier bezeichnet das übersteigerte Streben nach materiellem Besitz. Die Gier scheint allerdings auch Teil unserer condition humaine zu sein – unserer menschlichen Verfasstheit, denn solange wir unser Gehirn nicht bewusst einschalten und darauf achten, verlangt es uns nach immer mehr von dem, was sich einmal als gut oder angenehm erwiesen hat. Wir sind Jäger, Sammler und längst auch Horter. Ohne zu bedenken, dass sich durch Übertreibung jeder gute Zustand in einen weniger guten oder gar schlechten verwandelt. Da muss man sich nur einmal die Schnäppchentische im Schlussverkauf anschauen oder die »All you can eat«-Buffets der Wohlstandsgesellschaft: Wo reichlich vorhanden ist, wird gierig zugeschlagen. Dabei weiß jedes Kind, dass sich der zu volle Magen ebenso unangenehm anfühlt wie der zu leere. Doch der Mensch ist leicht verführbar – durch Farbe, Form, Aussehen –, eben durch alles, was seine Sinne anspricht. Weshalb wir auch allerlei Dinge kaufen, die wir im Grunde genommen gar nicht brauchen.

 

SCHON ADAM SMITH (1723 –1790), der Begründer der modernen Ökonomie, lehnte einen Hedonismus, wie er in einem kurzfristigen Luststreben zum Ausdruck kommt, als zu starke Vereinfachung ab. Dennoch wird ihm bis heute unterstellt, er habe Eigeninteresse und Egoismus als Voraussetzung für den Wohlstand erachtet. Entsprechend betrachteten Ökonomen bis vor Kurzem unerschütterlich das Prinzip des Egoismus als Haupttriebkraft menschlichen Verhaltens. Wohl wissend, dass dies eine grobe Simplifizierung darstellt, wurde ihr Modell des »Homo oeconomicus«, des selbstsüchtig auf seinen Vorteil bedachten Menschen, Grundlage volkswirtschaftlicher Theorie und war jahrzehntelang ein unwidersprochenes Axiom. Volkswissenschaftler, die dies infrage stellten, landeten schnell einmal im Abseits.
Von diesem vereinfachten Menschenbild ausgehend, wurde sogar Gesellschaftspolitik gemacht. Die Schlussfolgerung war, dass das optimale Ergebnis für eine Gesellschaft erreicht wird, wenn dem eigennützigen Streben des Einzelnen keinerlei Beschränkung auferlegt wird. Doch mit der Krise
kam die Demut. Seither wird dieses Modell zunehmend infrage gestellt. Ist der Mensch vielleicht doch altruistischer als allgemein angenommen? Treibt ihn vielleicht doch mehr als sein persönlicher Vorteil? Mit solchen Fragen ist unser gesellschaftlicher Diskurs nun dort angekommen, wo viele Philosophen bereits lange vor uns waren.

 

HABGIER, »DIE WURZEL ALLEN ÜBELS«, wie Apostel Paulus sie nannte, wird bereits im Alten Testament als eine der sieben Todsünden gegeißelt. Das Thema zieht sich in den vielfältigsten Mythen durch die Menschheitsgeschichte. Paradigmatisch hierfür ist die Geschichte von König Midas aus der griechischen Mythologie: Midas bittet den Gott Dionysos um die Gabe, alles, was er berührt, in Gold zu verwandeln. Dionysos erfüllt ihm den Wunsch, doch mit Entsetzen muss Midas feststellen, dass sich auch sein Brot in Gold verwandelt. Er wäre verhungert, wenn er dieses unselige Geschenk nicht hätte zurückgeben können. Aristoteles bezeichnete die Habgier mit ihrem Übermaß des Nehmens als eine Schwester des Geizes. Beides verfehle die goldene Mitte, das mittlere Maß, in dem sich alle klassischen Tugenden finden. Für den griechischen Philosophen galt Mäßigung als höchste Tugend, denn alles Gute, was man übertreibt, kehrt sich in sein Gegenteil und wird so zum Schlechten. Die moralische Kritik der Gier setzt seit Aristoteles an zwei Punkten an: Zum einen verstößt der Gierige gegen die Gerechtigkeit, indem er mehr zu besitzen beansprucht, als ihm aus Gründen der Fairness zusteht. Und zum zweiten strebt er nach mehr Besitz, als ihm guttut. Aristoteles empfahl daher die Freigebigkeit als Mitte zwischen den Extrempolen Gier und Geiz
als die einzig angemessene Haltung dem Besitz gegenüber.
Die Stoiker glaubten, dass der Mensch umso freier und zufriedener sei, je weniger Dinge er benötigt. Und dem Kyniker Diogenes (ca. 405 –320 v. Chr.) gelang es, seine Bedürfnisse auf das Minimum zu reduzieren: Er lebte bekanntlich in einer Tonne und bat seinen Herrscher nur um eines – er möge ihm aus der Sonne gehen! Der Mut eines wirklich freien Menschen.
Inzwischen zeigen Experimente der sogenannten Verhaltensökonomik – einer Verbindung von Ökonomie und Psychologie –, dass es weitestgehend dem Einfluss gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zuzuschreiben ist, wenn nur der persönliche Vorteil angestrebt wird. In Gesellschaften mit starker Konkurrenzorientierung kann dieser Einfluss so stark sein, dass sich Wettbewerbsstreben selbst dann durchsetzt, wenn ein gemeinsames Vorgehen sinnvoller wäre.
Dass Menschen ihr Verhalten den Umständen anpassen, zeigte zum Beispiel der österreichische Volkswirtschaftsprofessor Ernst Fehr, der an der Universität Zürich lehrt. In Spielexperimenten teilten seine Probanden ohne persönlichen Nutzen Geld mit anderen, sie investierten sogar die Hälfte ihres Startkapitals in eine Gemeinschaftskasse und vertrauten darauf, dass ihre Mitspieler es ihnen gleich tun. Bemerkten sie allerdings, dass sie ausgenutzt wurden, änderten sie kurzfristig ihr gruppensolidarisches Verhalten und reduzierten ihren Einsatz. Doch mit der Möglichkeit, das unfaire Verhalten anderer zu ächten, erhöhten sie diesen wieder. Damit ist der Homo oeconomicus wohl experimentell widerlegt. »Diese Kreatur hat sich als eine unhaltbare Fiktion erwiesen«, sagt Fehr, »und es wurde zu Recht festgestellt, dass in unserer alltäglichen Wirklichkeit ein Homo oeconomicus wohl rasch als abnorm gelten würde.«
Für praktizierten Altruismus braucht es allerdings die entsprechenden Rahmenbedingungen. »Sie können Umgebungen schaffen, die Menschen in ihren altruistischen Anlagen bestärken – oder diese abtöten«, so Ernst Fehr. »Ein Kollege hat zwei Fahrradkurierfirmen verglichen. In der einen bekommen die Leute Stundenlöhne, in der anderen werden sie für geleistete Aufträge bezahlt. Bei einem Experiment ähnlich dem Vertrauensspiel erwiesen sich die Kuriere der Firma mit den Stundenlöhnen als weit altruistischer als ihre Kollegen, die unter Akkord arbeiteten. Anscheinend hatten sich Letztere einfach daran gewöhnt, dass jeder sich selbst der Nächste ist.«

 

WENN WIR UNS HEUTE, nach vielen Jahren des »Jeder ist sich selbst der Nächste« über die Gier beklagen, meinen wir jedoch meist die Gier der anderen damit – die der Banker, der Wirtschaftsbosse, der Autokraten. Was wir oft vergessen, ist unsere eigene Gier, zum Beispiel nach immer noch mehr Konsum. Allerdings wird diese Gier zugleich auch ständig angeregt: In der traditionellen Volkswirtschaft wurden Güter hergestellt, um natürliche Bedürfnisse zu befriedigen. Heute werden immer neue künstliche Bedürfnisse erzeugt, um das Angebot der Hersteller abzusetzen. Die moderne Massenproduktion und damit einhergehend eine Werbewirtschaft, die zum permanenten Konsum auffordert, hält die imaginäre Gier nach mehr ständig am Kochen, während Sättigung um jeden Preis verhindert werden muss. Dem  unternehmerischen Gewinnstreben entsprechen die künstlich erzeugten Bedürfnisse auf der Konsumentenseite – ohne die es in den wohlhabenden Ländern kaum noch Wachstum gäbe.
»Der materielle Fortschritt ist in vieler Hinsicht zur säkularen Religion und zur großen Hoffnung unserer Zeit geworden«, schreibt Tomáš Sedlácek, Chefökonom der größten tschechischen Bank und Regierungsberater, in seinem Buch »Die Ökonomie von Gut und Böse«. Er ergänzt ironisch: »Das ist der Grund dafür, dass wir ständig wachsen müssen – weil wir auf dem Weg zu einem Paradies auf Erden sind.« Gleichzeitig aber hat diese Wachstumsfixierung »die Macht, uns zu beherrschen und in gewisser Weise zu versklaven«. Ein Absinken des Bruttoinlandsproduktes (BIP) werde sofort zur Katastrophe erklärt, als Rückschlag für einen Fortschritt, der im Gegensatz zu früheren Zeiten rein materiell verstanden wird – obwohl sich an ihn zugleich geradezu religiöse Heilserwartungen knüpfen.

 

DAS KANN NICHT FUNKTIONIEREN, und so hält auch die persönliche Lebenszufriedenheit in den wohlhabenden Ländern mit steigendem Wirtschaftswachstum nicht mehr Schritt. Statistiker beobachten seit Jahren, wie sich die Kurven von Wohlstand und gefühlter Lebensqualität auseinanderentwickeln. Wenn grundlegende Bedürfnisse gestillt sind, führt mehr Reichtum offenbar nicht zu mehr Glück – so das Easterlin-Paradox, benannt nach dem amerikanischen Ökonomen Richard Easterlin, der diese Theorie über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück bereits 1974 aufstellte. Entsprechend konstatierte auch der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart, dass Einkommen und Glück in den wohlhabenden Ländern »überraschend schwach« korrelieren. Vielmehr sinke mit steigendem Wohlstand einer Gesellschaft das Bestreben nach materialistischen Werten, während die Neigung zu immateriellen Werten zunimmt.
Eine Ökonomie, die sich der Mathematik verschrieben hat und, fasziniert von Zahlen und Modellrechnungen, sowohl die Ethik, als auch die soziale Wirklichkeit aus den Augen verliert, wird seelenlos, denn sie stellt nicht mehr die wichtigen Fragen: Wie wollen wir leben? Wie gerecht soll unsere Welt sein? Wie viel Wachstum brauchen wir für unser Glück? »Wenn die Ökonomie ihr Ziel verliert, bleibt uns nur noch eins: Wachstum – ein Wachstum, das nichts kennt als sich selbst, da es kein Ziel als Maßstab hat. So ein Wachstum ist durch ein Gefühl der Ziellosigkeit mit Sinnlosigkeit und Heimatlosigkeit verbunden«, meint Tomáš Sedlácek. »Wenn maximales Wachstum der Imperativ unserer Zeit ist, können wir uns nicht  ausruhen und auch keine Befriedigung erreichen, und der Sinn geht verloren.«


DIE KOLLATERALSCHÄDEN einer auf rastloses Wachstum ausgerichteten Gesellschaft sind bereits deutlich sichtbar: Stetig steigende Zahlen von Depressionen und Burnout durch Überforderung, eine Zunahme von Angsterkrankungen und Süchten sowie Einsamkeit und der Zerfall sozialer Beziehungen – dies sind die geheimen Kosten des Wohlstands.
Vor diesem Hintergrund scheint die einseitige Fixierung auf eine ständige Steigerung des BIP an den Bedürfnissen der Menschen vorbeizugehen. Auch wenn es nach wie vor ein wichtiger Indikator für die Wirtschaftsleistung eines Landes ist, rückt seine Unzulänglichkeit, Lebensqualität zu erfassen, seit der Finanzkrise stärker in den Fokus. Nun sucht die Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« des Deutschen Bundestages nach neuen Wohlstandsindikatoren, um den veränderten Prioritäten Rechnung zu tragen. Sie werden sie wohl in Aristoteles’ Mitte finden, wo er »das Gute und Sinnvolle« verortet. So wäre es vielleicht an der Zeit, den Homo oeconomicus auch mental durch den Homo sociologicus abzulösen oder zumindest zu ergänzen, womit der gemeinschaftsbewusste Mensch gemeint ist, der Verbundenheit lebt, weil er das persönliche Vorteilsstreben auf die Dauer als zu wenig glückstauglich empfindet.
Wachstum und Wohlstand sind nicht die einzigen Voraussetzungen für Glück – und an diesem Punkt unserer Entwicklung haben wir sie möglicherweise bereits in ihrer Gänze ausgeschöpft. Um wieder eine bessere Balance zwischen den materiellen und den immateriellen Aspekten des Lebens zu finden, müssten wir uns konsequenterweise von der Gier zur Mäßigung bewegen. Dabei würde es manchmal schon reichen, das gerade Erreichte, Gekaufte oder Eroberte ausgiebig zu genießen, anstatt gleich wieder auf die Jagd nach noch mehr zu gehen.
Der Schweizer Theologe Hans Küng formulierte es in seiner »Erklärung zum Weltethos« so: »Statt einer unstillbaren Gier nach Geld, Prestige und Konsum ist wieder neu der Sinn für Maß und Bescheidenheit zu finden. Denn der Mensch der Gier verliert seine Seele, seine Freiheit, seine Gelassenheit, seinen inneren Frieden und somit das, was ihn zum Menschen macht.

 

CATHARINA AANDERUD
Philosophie-Zeitschrift "Hohe Luft", Juni 2013

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