Interview mit der Trauma-Experten Pia Heckel

Was genau versteht man unter einem Trauma?

Ein Trauma ist immer die individuelle Reaktion eines Menschen auf ein Ereignis, bei dem es um die Bedrohung der körperlichen oder emotionalen Existenz geht. Allerdings reagieren Menschen unterschiedlich auf eine solche Bedrohung.

Wovon ist das abhängig?

Von der Resilienz, also den Widerstandskräften des Betreffenden und den Begleitumständen. Man muss sich das so vorstellen: Bei extremem Stress erfolgt normalerweise Kampf oder Flucht, das ist bei uns evolutionär so angelegt. Wenn aber beides nicht möglich ist, kommt es zur Erstarrung, dem sogenannten Freeze. Hier entstehen die Traumasymptome. Wenn in diesem Moment Hilfe und Unterstützung da ist -  ein „befreundeter Mitaffe“ , wie der Hirnforscher Gerald Hüther es bildhaft ausdrückt - und sich um den Betroffenen kümmert, kann sich das alles sehr schnell wieder auflösen. Ohne solche Unterstützung kann es zur chronischen Traumatisierung kommen.

Was genau passiert bei diesem Freeze?

Der Stoffwechsel ist enorm hoch, weil sowohl das sympathische als auch das parasympathische Nervensystem auf Hochtouren laufen. Es ist als ob Gas und Bremse gleichzeitig betätigt werden. Das Gehirn kann dann Reize nicht mehr verarbeiten, die Weiterleitung zum Sprachzentrum ist blockiert, der gerade Traumatisierte kann nicht über das Ereignis sprechen. Er dissoziiert, das heißt, er spaltet seine Gefühle ab und bekommt nicht mehr viel mit, was ein Schutzmechanismus ist. Man denkt beim Trauma oft nur in psychologischen Kategorien, aber es ist in weiten Teilen eine extreme Notsituation des gesamten Stoffwechselsystems, die der Körper nicht verarbeiten kann. Ein toxisch hoher Cortisolspiegel zerstört Verschaltungen im Hippocampus, die für die Verarbeitung von Erinnerungen zuständig sind.

Wie sehen die Symptome eines Traumas aus?

Das wichtigste Traumasymptom ist, dass es zeitlos ist. Ein Syrer kann über eine traumatische Situation sagen: Das war vor zwei Jahren, aber sobald er sich daran erinnert, fühlt es sich für ihn an wie jetzt, der Zeitfaktor spielt dann keine Rolle mehr. Durch bestimmte Schlüsselreize - wenn er Geräusche wie Silvesterknaller  hört, oder etwas riecht, was ihn das damalige Ereignis erinnert - kommen die Bilder spontan wieder hoch,  weil sie nicht dem ordnenden Verstand zugänglich sind. Diese Intrusionen, so nennt man das Wiedererleben traumatischer Ereignisse, können den Traumatisierten  regelrecht überwältigen, sie können sich auch in Gedankenschleifen äußern, die die Betroffenen quälen, oder durch Körperempfindungen, die an Gewalterfahrungen erinnern.

Woran kann man erkennen, ob ein Flüchtling traumatisiert ist?

Eine posttraumatische Belastungsstörung zeigt sich in Übererregung, erhöhtem Muskeltonus, großer Anspannung und einer Beeinträchtigung der Konzentration. Die Betroffenen sind hocherregt, wirken aber nach außen erstarrt. Sie checken alles ab und konzentrieren sich darauf, dass ihnen das Furchtbare, was sie erlebt haben, nicht wieder passiert.  Das hat auch eine depressive Komponente: Sie vermeiden Kontakte, gehen nicht nach draußen und können eventuell nichts mehr machen, was ihnen Freude macht. Oder sie somatisieren und klagen über Bauch- oder Rückenschmerzen. Viele sind zunächst gar nicht in der Lage, Angebote wie Sprachunterricht wahrzunehmen.

Wie stabilisiert man einen traumatisierten Menschen?

Je mehr Selbstwirksamkeit er erlebt, je mehr er das Gefühl bekommt, trotz seines Schicksals etwas machen zu können, wie Deutsch zu lernen oder zu arbeiten,  desto besser. Sport ist auch sehr hilfreich, weil sich so der hohe Stresspegel abbaut. Es muss nicht unbedingt eine Traumatherapie sein, für die es ohnehin nicht genügend Plätze gibt. Aber wir brauchen viele Fachleute aus dem psychosozialen Bereich, die stabilisierend arbeiten.  Am wichtigsten  ist, dass die Betroffenen sich gut aufgenommen und sicher fühlen, dass sie von freundlichen Menschen umgeben sind, die sie unterstützen. So können sie wieder in Kontakt mit den eigenen Stärken und Ressourcen kommen.

Ist es hilfreich, wenn ich mir die Geschichten von Flüchtlingen erzählen lasse?

Sich die Geschichten von Krieg und Flucht erzählen zu lassen ist nicht sinnvoll, denn jede Erinnerung verfestigt die Schreckensbilder nur. Ein Trauma kann man nicht dadurch abbauen, dass man es erzählt, das können nur Ersthelfer direkt nach dem Schock leisten. Traumatisierte wollen darüber sowieso nicht reden, aber auch für stark Belastete ist es nicht günstig, da das Erlebte durch die Erzählung immer wieder lebendig wird. Neurobiologisch gesehen wird ein Erinnerungsbild immer präsenter und lebendiger, je öfter ich es aufrufe. Wenn man als Laie mit Flüchtlingen arbeitet, sollte man ihnen eher die Möglichkeit geben, ihre Biografie zu vervollständigen, indem man sie beispielsweise fragt: Was war vorher? Was hast du gemacht? Was für Feste habt ihr gefeiert? Damit bietet man ihnen Distanz zu der Vorstellung, ihr bisheriges Leben sei nur von Terror, Krieg und Flucht bestimmt gewesen.

Manche erzählen aber auch von sich aus.

 

Ja, manche haben das Gefühl, sie müssten ihre Geschichte erzählen, damit wir verstehen, warum sie hier sind. Für ehrenamtliche Helfer ist es aber wichtiger, Bindung und Unterstützung anzubieten als ihr Ohr.  Ich rate in solchen Fällen zu sagen: „Wenn du es erzählst, wird es für doch schlimmer und für mich auch.“ Wir erleben ja, was schon die abendlichen Fernsehbilder mit uns machen. Wenn aber jemand vor uns sitzt und erzählt und wir die Angst in seinen Augen sehen, überträgt sich das noch viel stärker und wir reagieren auf diese Angst. Sie ist uns nicht gänzlich unbekannt, denn schließlich haben wir von unseren Eltern und Großeltern mitgekriegt, dass Flucht auch in Deutschland ein Thema war.

 

Gibt es ein paar einfache Übungen oder Techniken  gegen traumatische Belastungen?

 

Es geht dabei immer um Distanzierung und darum, die Aufmerksamkeit nach außen zu lenken. Eine einfache Übung, die man auch im Deutschkurs  für Flüchtlinge anleiten kann, ist folgende: Man bittet die Schüler, sich nacheinander auf fünf Dinge zu konzentrieren, die sie sehen, die sie hören und die sie spüren können. Im nächsten Durchgang dann auf jeweils vier Dinge – es können dieselben sein, wie schon genannt , danach auf drei, zwei und schließlich auf eines. Eine sehr hilfreiche Übung, um von inneren Gedankenschleifen wieder in die Außenwelt  zu kommen. Auch das Abklopfen des eigenen Körpers, Balance-Übungen, Yoga  und Laufen sind gut. Nicht zu empfehlen sind Meditieren und lange Sprechpausen, weil dabei zu viele innere Bilder entstehen.

 

Was ist das Ziel einer Traumatherapie?

 

Distanzieren!  In der Traumatherapie wird daher heute nicht mehr wie zu Sigmund Freuds Zeiten alles durchgearbeitet, sondern der Betroffene dazu angeleitet so unemotional und distanziert wie möglich darüber zu reden, so als sehe er einen Spielfilm. Distanz hilft, die Sinnhaftigkeit herzustellen, damit sich das Trauma nicht im ewigen Jetzt abspielt, sondern in die eigene Biografie eingeordnet und integriert werden kann: Es war schlimm, ich habe gelitten, aber jetzt ist es vorbei. Idealerweise ist dann irgendwann aus dem rauschenden Strom der Belastung ein leise plätschernder Bach geworden.

 

Erschienen in www.holmbrook.de 2014